Der Fall Ulrike Guérot: Das Ausrufezeichen kann nicht abgeschrieben sein

Ihr Rechtsanwalt Tobias Gall, ein Berliner Fachanwalt für Arbeitsrecht, der sich auf Bezirksebene für die AfD engagiert und gelegentlich auch als Internetpublizist hervortritt, hatte das librum delicti mitgebracht, um einen kuriosen Augenscheinbeweis zu führen: Selbst aus der Entfernung (von zwei bis drei Metern) zwischen der dreiköpfigen Kammer und den Parteivertretern sei mit bloßem Auge zu erkennen, dass es sich nicht um ein wissenschaftliches Werk handele. Bei dieser optischen Wahrheitsprobe bezog sich der Anwalt auf die farbenfrohe Gestaltung des Umschlags – offenbar hatte er es versäumt, sich zur Sicherheit vorher noch einmal in einer Universitätsbuchhandlung in der Abteilung für zeitdiagnostische Traktatliteratur umzusehen.[…]
Gall musste darüber hinweggehen, dass Dietz ein Traditionsverlag für politikwissenschaftliche Literatur des sozialdemokratischen Spektrums ist, in dem sich Guérot 2016 noch bewegte. Für die Universität Bonn kommt es darauf an, dass Guérot das Buch zum Nachweis ihrer Qualifikation für die ausgeschriebene Stelle einer Professorin einreichte. Ihre Anwälte legten dar, dass sie mit diesem Prunkstück ihres Schriftenverzeichnisses, ihrer ersten mo­no­gra­phischen Publikation seit der Doktorarbeit, gar nicht ihre wissenschaftliche Qualifikation habe belegen wollen, sondern ihre außerwissenschaftliche Resonanz. Gall verwies auf den Wortlaut von Guérots Angaben in den Bewerbungsunterlagen: Dort schrieb sie von der „populärwissenschaftlichen Sprache“ des Buches – und „populärwissenschaftlich“ sei bekanntlich das Gegenteil von „wissenschaftlich“.[…]
Ihr zweiter Anwalt Rainer Thesen beschwerte sich darüber, dass sie wegen ihrer Entlassung aus dem Professorenamt als „umstritten“ gelte – was heute das Gegenteil eines schmückenden Beiworts sei, aber ein Adelsprädikat sein müsste, wenn der Geist der Zeit noch derselbe wäre wie zur Zeit der Göttinger Sieben. Dem anwesenden Kanzler der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität blieb der Hinweis erspart, dass dem Wortführer der in Göttingen vom König von Hannover Entlassenen, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, im preußischen Bonn universitäres Asyl erhielt.
Als sich zwischen Gall und dem mindestens ebenso redegewandten Anwalt der Universität, Matthias Spirolke von der Bonner Kanzlei Hümmerich, zum Stichwort der Populärwissenschaft ein literaturtheoretischer Streit darüber entspann, ob ein Buch in erster Linie ein „Sprachwerk“ sei (Gall) oder es auch auf den Inhalt ankomme (Spirolke), schaltete sich der Kammervorsitzende mit einem dezenten Hinweis ein: Der Disput über die Semantik des Begriffs der Populärwissenschaft muss nicht entschieden werden, wenn triftig ist, was die Universität zur Syntax der zitierten Stelle aus den Bewerbungsdokumenten geltend macht.[…]
Eine Pointe ließ Guérot sich entgehen: Der F.A.Z.-Rezensent, der das Wesen ihres Buches angeblich so gut erkannt hatte, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Rezension Professor an der Universität Bonn. (2018 wechselte der Historiker Dominik Geppert auf einen Lehrstuhl an der Universität Potsdam. Anders als Guérot suggerierte, hatte Geppert ihr freilich nicht die Urheberschaft an allen Ideen des Buches bescheinigt. Neu waren sie nach seinem Urteil gerade nicht. „Zur Ausgestaltung ihrer Utopie bedient sich die Autorin ausgiebig in der europäischen Ideen- und Verfassungsgeschichte.“
Das war kein Plagiatsvorwurf – und auch noch kein Einwand. Geppert bestritt nicht, dass sich ein radikaler Gegenentwurf zum Zustand der politischen Institutionen mit wissenschaftlichen Argumenten ausarbeiten lässt. Sein politisches Urteil mit dem Maßstab des Realismus ließ allerdings Rückschlüsse auf das wissenschaftliche Niveau des Buches zu: „Wenn die europäische Geschichte eines lehrt, so ist es Skepsis gegenüber Großentwürfen vom intellektuellen Reißbrett, die kulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Unterschiede geschichtslos einebnen und in romantischem Überschwang namens einer verheißungsvollen Zukunft zu einer idealisierten Vergangenheit zurückkehren wollen.“ Als vier Jahre später die Bonner Berufungskommission das Buch zur Grundlage ihrer Entscheidung machte, dem Rektor die Berufung Guérots vorzuschlagen, ließ sie sich vom skeptischen Urteil des fachlich zuständigen vormaligen Kollegen nicht beirren.
https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/der-fall-ulrike-guérot-das-ausrufezeichen-kann-nicht-abgeschrieben-sein/ar-AA1F0ecD?ocid=socialshare #politik #Wissenschaft #Literatur #Europa tja, so kann man wohl auch seine Zeit verschwenden, und was lernen wir aus der Geschicht? Es kommt nicht nur darauf an was man sagt, sondern auch wie man es sagt, ab das lernen die meisten halt schon im Kindergarten 😂